Psychologische Anomalien
Das Interview. Am nächsten Morgen erfolgt die Zusage. Das Interview, das ursprünglich online geplant war, wird in ein Präsenzmeeting umgewandelt. Ein französisches Café in einem Szeneviertel stößt auf Begeisterung. Die Interviewpartnerin im orangefarbenen Oberteil mit königsblauer Hose stellt die Frage nach der Anrede. Die französische Variante mit Sie und Vorname scheint für die Themenauswahl und die Art der Kommunikation perfekt zu sein. Ein Kellner, der wie der junge Arthur Rimbaud aussieht, bringt die Getränke. Nachdem das Interview beendet ist, spricht die Künstlerin ihren gestrigen emotionalen Zustand an. Es folgt der Vorschlag sich zu duzen und eine Verabredung für den nächsten Tag.
Die Vorbereitung des Experiments. Es findet in ihrem Künstleratelier statt, in dem sich auch eine Treppe befindet, die als Bühne genutzt werden wird. Zwei ihrer ehemaligen Mitstudierenden wurden zuvor über das Vorhaben informiert und sind entsprechend vorbereitet. Die Künstlerin wird gebeten, in den nächsten Minuten ihre Gefühle zu beobachten, während sie die vorgestrige Szene nochmal nachspielt. Jedesmal, wenn sie zu merken beginnt, dass es sie emotional sehr fordert, wird sie einem ihrer beiden Freunde zunicken, der ihr eine Pause verschaffen wird. Abschließend wird sie ein Fazit ziehen.
Die Künstlerin erscheint im Atelier. Nach der Malperformance begrüßt sie die Gäste, erläutert die Ausstellung. Der Austausch innerhalb zu enger Beziehungsstrukturen fordert sie, wie sie später erläutern wird. Die emotionalen Dringlichkeiten ihrer Gegenüber verarbeitet sie zwar, doch ihre eigenen emotionalen Dringlichkeiten behält sie als Gastgeberin für sich, friert sie ein. Sie nickt einem der beiden Freunde zu. Dieser stellt sich als Lautriamont vor und deklamiert eines seiner sprachgewaltigen Gedichte. Die Künstlerin liest weitere Textpassagen vor, hält erneut abrupt inne, wirkt emotionalisiert. Sie nickt dem zweiten Freund zu. Dieser stellt sich als Camille Saint-Saėns vor, spielt von seinem Handy ein kleines Klavierstück in C-Dur. Die Künstlerin liest die übrigen Textstellen vor.
Ihr Fazit: es ist ungewöhnlich anstrengend, permanent die eigenen Gefühle zu beobachten. Abweichende, unerwartet auftretende Gefühlsintensitäten ("psychologische Anomalien") sowie nicht bearbeitete psychologische Situationen erschienen als fragmentarische Ereignisse vor dem inneren Auge, konnten nicht in Worte gefasst werden. Die mentale Präsenz in den Gefühlen der Vergangenheit verringert so den Platz für neue gegenwärtige Erfahrungen. Der Kreativkollaborateur, der Lautreamont zitierte, ergänzt, dass sie langfristig ihren inneren Raum einengen würden. Sie beschließt, den Kampf aufzunehmen, um ihren Innenraum zu weiten, spielt vom Handy die Marseillaise und bittet die Autorin dieses Artikels, das Experiment zu veröffentlichen, damit auch andere Menschen davon profitieren und "ihre kreative Kraft auf unerwartete Weise leben können". Zitat aus: https://www.bod.de/buchshop/bleuciel-de-sagesse-marion-wolters-9783752649000